Geht man von einem eher ganzheitlichen Verständnis von Hochbegabung im Sinne eines speziellen Zugangs zur Welt aus, die sich auf verschiedene Aspekte der Persönlichkeit, des Verhaltens und der Interaktion mit anderen Menschen auswirkt, so wäre es nur logisch, anzunehmen, dass sich dieser auch auf den Bereich der Beratung und Therapie auswirkt. Dieser Gedanke scheint jedoch derzeit weder in theoretisch-konzeptioneller Hinsicht noch in der Praxis von Therapie und Beratung große Beachtung zu finden. Christina Heil hat dieses Thema als eine der Ersten in ihrem Artikel „Psychotherapie mit hochbegabten Erwachsenen“ (erschienen im Psychotherapeutenjournal, Jg. 17, erschienen am 14.9.2018) in den Fokus gerückt. Meiner Meinung nach sollte der Faktor Hochbegabung insbesondere bezogen auf den gesamten Prozess der jeweiligen Beratung bzw. Therapie verstärkt beachtet und ausdifferenziert werden.
Das Bedürfnis, wirklich verstanden zu werden, sich aufrichtig mitzuteilen und Hilfe zu bekommen ist wohl den meisten Ratsuchenden gemein und bei vielen Hochbegabten ein wichtiges Lebensthema. Doch wenn Berater*innen zu wenig über spezielle Bedürfnisse bzw. Zugänge Hochbegabter wissen, kann es zu Missverständnissen kommen. Wenn sie sich durch den Hochbegabten herausgefordert oder gar provoziert fühlen oder dessen abweichenden Wertvorstellungen nicht in vertraute Raster passen (vgl. Andrea Brackmann (2004): Jenseits der Norm – hochbegabt und hoch sensibel?), kann dies zu einem Gefühl des Nicht-verstanden-Werdens führen. Das könnte gerade in Situationen, in denen der Hochbegabte akut belastet ist, bestehende Probleme verschlimmern. Auch ist zu vermuten, dass sich verschiedene psychische Krankheiten bei Hochbegabten anders äußern bzw. diese unter Umständen besondere Dispositionen besitzen könnten, bestimmte Krankheiten zu entwickeln (vgl. James T. Webb (2004): Doppeldiagnosen und Fehldiagnosen bei Hochbegabung).
Ich halte die Beachtung spezieller Zugänge Hochbegabter zur Welt im Hinblick auf die (Weiter-) Entwicklung geeigneter, passgenauer Beratungs- und Therapiekonzepte für wichtig, da ein uninformierter Umgang hier mitunter schlimme Folgen haben kann. Sicher können empathische Therapeuten oder Berater auch derartige Bedürfnisse oder Zugänge ohne weiteres Wissen über Hochbegabte erspüren und darauf eingehen. Dies sollte jedoch nicht dem Zufall überlassen bleiben. Ich möchte mich daher genauer mit diesem Thema auseinandersetzen, eventuell im Sinne einer Literaturaufarbeitung und eigenen Forschungen zum Thema, und so auf lange Sicht zur Entwicklung geeigneter Konzepte beitragen.
Vanessa Friedberger
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Christina (Samstag, 10 November 2018 21:52)
Liebe Vanessa,
vielen Dank für deinen Beitrag. Auch ich erkenne diese Notwendigkeit und habe daher den Artikel im Psychotherapeutenjournal geschrieben, den du zitiert hast. Tatsächlich kennen sich erst sehr wenige Psychotherapeuten mit dem Thema Hochbegabung aus, doch es tut sich was. Die Psychotherapeutin Frauke Niehues aus Gießen beschäftigt sich ebenfalls schwerpunktmäßig mit Hochbegabung und ist meines Wissens bisher die Erste, die Fortbildungen für Kollegen zu diesem Thema anbietet. Auch ich werde nächstes Jahr ein Seminar bei ihr besuchen. Sie hat ein Therapie- und Beratungskonzept entwickelt: www.können-macht-spass.de. Es freut mich, dass du dich ebenfalls in diesem Bereich einbringen möchtest. Bist du selbst auch Psychologin oder Psychotherapeutin? Sehr gerne darfst du dich mit Ideen oder Anregungen an mich wenden.
Vanessa (Donnerstag, 15 November 2018 11:01)
Liebe Christina,
ich danke Dir sehr für Dein Feedback! Frauke Niehues war mir auch aus Deinem Artikel bekannt. Schön und spannend, dass Du ein Seminar bei ihr besuchst. Ich würde mich sehr gern mit Dir austauschen. Ich bin keine Therapeutin, habe aber eine (angefangene) Beraterausbildung.
Liebe Grüße
Vanessa
Christina (Donnerstag, 15 November 2018 21:27)
Liebe Vanessa,
sehr gerne können wir uns über das Thema austauschen. Ich habe erst gestern wieder etwas entdeckt, was ich wirklich klasse finde. Auf www.psychotherapiesuche.de kann man gezielt nach Therapeuten suchen, die Hochbegabte als Zielgruppe angegeben haben.
Liebe Grüße
Christina
Selma (Mittwoch, 12 Dezember 2018 16:29)
Liebe Christina, liebe Vanessa,
wie schön, dass Ihr Euch auch für dieses Thema interessiert und Euch engagiert dafür einsetzt! Ja, es ist ein unterversorgtes Gebiet. Ich finde den Bedarf groß, die Förderung des Verständnisses nötig und bereichernd, und arbeite selbst als Coach und Musiktherapeutin mit einem Schwerpunkt "Hochbegabung": www.klangfarbenzeit.de
Als ich einmal selbst auf Therapeutensuche die von Dir, Christina, angegebene Seite genutzt habe, musste ich leider feststellen, dass ein paar Therapeuten dort die Zielgruppe Hochbegabte angeben ohne fundiertere Kenntnisse darüber zu haben. Einer meinte dazu beim Erstgespräch sowas wie "Achja, das habe ich angegeben, weil ich schonmal einen Hochbegabten als Klienten hatte. Aber ich kenne mich nicht wirklich aus auf diesem Gebiet.". Danach fragte ich gleich vor dem Erstgespräch am Telefon genauer nach und bekam mehrere ähnliche Antworten.
Ich hoffe, dass ich auch im kommenden Jahr eine Fortbildung von Frauke Niehues machen werde. Vielleicht treffen wir uns dort, Christina. Über Austausch zu diesem Thema würde ich mich dort, über ihre Mailingliste o.ä. freuen. Wisst Ihr, ob es international Fortbildungen oder Konzepte zu HB-Therapien gibt?
Übrigens ist eines meiner Favoriten "Your Rainforest Mind" von Paula Prober - vielleicht wäre das noch ein Buch für Deine Literaturaufarbeitung, Vanessa? Paula Prober ist selbst Psychotherapeutin.
Adventlichte Grüße,
Selma